Anmerkung zu Frage 16
Obwohl sich ein Teil der Wählerschaft aus unterschiedlichen Gründen nicht an den Wahlen beteiligt (zum Teil und zunehmend sicher auch deshalb, weil sich jemand von keiner Partei vertreten fühlt), wird der Landtag immer mit gleich vielen Abgeordneten besetzt, so als ob diese von 100% der Wählerinnen und Wähler gewählt worden wären. Auch öffentlich wird der Anteil, den eine Partei/Liste an der politischen Vertretung hat, so vermittelt, als ob sie mit ihrem Stimmenanteil einen entsprechenden Teil von 100% der Wählerschaft vertreten würde.
Zum Beispiel: Bei den letzten Landtagswahlen sind nur 65% der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen. Von diesen haben 47% die SVP gewählt. Im Verhältnis zur gesamten Wählerschaft (100%) vertritt die SVP aber nur 30,5% der Wahlberechtigten.
Finden sie es richtig, dass die Nichtwahl als Willensbekundung auf diese Weise nicht berücksichtigt wird?
Wie ist die Nichtbeteiligung der Wählerinnen und Wähler zu bewerten? Welches sind die Gründe der Nichtbeteiligung? Eine Tatsache dürfte helfen, diese Fragen zu klären. Die Nichtbeteiligung an den Wahlen sinkt von Wahl zu Wahl. Haben sich vor 50 Jahren noch über 90 % an den Landtagswahlen beteiligt, so waren es bei den letzten nur noch 77,7 %. Zugleich kann es keinen Zweifel darüber geben, dass die Politik angesichts der zunehmenden Probleme immer mehr Anlass zu Kritik gibt. Es liegt folglich auf der Hand, dass die Nichtbeteiligung zuallererst Ausdruck von Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik ist, Ausdruck eines durch Erfahrung begründeten Gefühls, dass mit Wahlen kaum die Möglichkeit besteht, die Politik zu ändern. Naheliegend ist aber auch einfach die Annahme, dass wer nicht zur Wahl geht, schlichtweg nicht weiß, wen er wählen soll, dass es keine Partei gibt, an die er/sie bewusst die eigene Entscheidungsmacht delegieren will. Uns scheint es zu einfach und zu billig davon auszugehen, dass wer nicht wählt, zu bequem und zu desinteressiert ist. Die allermeisten Bürger, von denen man erfährt, dass sie nicht wählen, nennen als Grund, sie hätten erfahren, dass dies ohnehin nichts nützt, dass es kaum einen Unterschied machen würde, wen man wählt, dass alle, die an der Macht sind, von dieser korrumpiert würden. Nicht wenige wollen auch mit ihrer Nichtbeteiligung ein Zeichen setzen. Gerade das aber gelingt nicht. Es wird zwar bei der Bekanntgabe der Wahlergebnisse als erstes die Wahlbeteiligung genannt, aber schon bei der zweiten Meldung hört es sich so an, als hätten sich alle Wählerinnen und Wähler an der Wahl beteiligt: die Summe der von den Parteien erworbenen Anteile ergibt 100%, 100% der Wählenden und nicht der Wahlberechtigten. De facto vertreten die Gewählten in der parlamentarischen Versammlung nicht 100% der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, sondern z.B. nur 60 %. Wird dann eine Mehrheitsregierung gebildet, die eine Parlamentsmehrheit von z.B. 60% hat, dann regiert eine Mehrheit, die nur 36% der Wahlberechtigten vertritt. Ein Staatsgesetz sieht vor, dass eine Gemeinderatswahl, bei der nur eine Partei kandidiert und sich an der Wahl nicht mehr als 50% der Wahlberechtigten beteiligt, ungültig ist und wiederholt werden muss. Eine sehr niedrige Wahlbeteiligung bei nicht bestehender Auswahlmöglichkeit war also auch für den Gesetzgeber ein Grund anzunehmen, dass die demokratischen Bedingungen für die Wahl gefehlt haben und diese also zu wiederholen sei. So geschehen im vergangenen Jahr in der Gemeinde Urtijëi. Dort hatte nur die SVP kandidiert und haben sich im Mai 2015 nur ca. 40% der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt. Im November 2015 waren es plötzlich 70%. Was hatte sich geändert? Es ist eine attraktive Auswahlmöglichkeit entstanden. Die Nichtbeteiligung ist also wirksam geworden und zwar so sehr, dass eine ganz neue Kraft, die mit einem neuen, kooperativen Verständnis von Politik angetreten ist, auf Anhieb die absolute Mehrheit errungen hat. Vielleicht wäre es also doch nützlich und zumindest korrekt, wenn die Nichtbeteiligung an Wahlen als Willensbekundung ernst genommen würde und konkrete Auswirkungen hätte.